Zweimal verbeugen, zweimal klatschen, dann innehalten – so ungefähr schien es zu gehen. Ich reckte meinen Hals, um zu sehen, wie es die Menschen vor uns machten, die zum Gebet am Nogi-Jinja-Schrein in Tokio anstanden. Es war Silvesterabend, fast dämmerte es bereits, und eigentlich hatten mein Freund und ich gerade etwas essen wollen. Doch dann hatten Papierschnipsel, die von dem Zugang zu einer Schreinanlage her auf den Bordstein wehten, unsere Aufmerksamkeit geweckt. Offenbar war hier gerade ein Fest gefeiert worden: Geschäftige Schreindiener sammelten die Papierchen auf, Besucher fotografierten sich gegenseitig vor zu segnenden Sake-Fässern.
Das Essen konnte warten, so etwas bekommt man nicht alle Tage zu sehen. Und natürlich hatten wir dieser besonderen Stätte unsere Ehre erwiesen, ganz wie die anderen Besucher es uns vormachten: waren an jedem Torii-Tor, das den Übergang vom weltlichen zum spirituellen Raum symbolisiert, kurz stehen geblieben und hatten uns verbeugt.
"Willst du beten?", hatte mein Freund gefragt. Warum nicht?, dachte ich mit Blick auf die vor dem Schrein ordentlich aufgereihten Menschen. Mitmachen ist aufregender als zugucken, und das Vaterunser betete ich schließlich in der Kirche auch immer mit, selbst wenn ich nicht daran glaubte.
Dabei hatte ich, was Religiosität angeht, eigentlich die volle Ladung abbekommen: orthodox getauft im sowjetischen Moskau der 80er Jahre, aufgewachsen mit den mennonitisch-altertümlichen Gepflogenheiten meiner Großmutter, evangelisch konfirmiert in der westdeutschen Provinz, dann noch der Besuch eines katholischen Gymnasiums – ich war das ökumenische Gesamtpaket, ein christlicher Vierkampf in Person. Der Pfarrer meiner Jugend wäre stolz zu hören, dass ich später auch noch Religionswissenschaft studierte, und weniger stolz vielleicht, dass ich Religionen schon damals eher mit dem Interesse einer Anthropologin betrachtete – und selbst dieses in kürzester Zeit nachließ.
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